Der Mauerbau jährt sich zum 60. Mal. Das Datum war für die Menschen in Ost und West eine dramatische Erfahrung, weil es den politischen Ist-Zustand unumkehrbar machte – 28 Jahre lang. Eine Rückkehr zur Einheit, wie sie sich viele Deutsche seit den 1950er Jahren gewünscht hatten, wurde mit der Grenzschließung unmöglich. Im Rahmen des Gedenkens hatten wir Köpenicker*innen aufgerufen, aufzuschreiben, wie sie den 13. August 1961 erlebten. Die Gespräche verdeutlichten vor allem eins: Wer sich bewusst an den heißen Augusttag vor 60 Jahren erinnert, möchte das im Vier-Augen-Gespräch tun – und nicht veröffentlichen. „Es gibt Episoden, die man lieber umter Verschluss hält“, so ein Zeitzeuge. Zwei Stimmen durften dennoch zitiert werden.
Günter Langer war 1961 in Grünau zu Hause. Heute lebt er am Wendenschloss und blickt auf 92 Lebensjahre zurück. Als junger Mann Anfang 30 hatte er im August 1961 seine Mutter beherbergt, die aus Halle nach Berlin gekommen war, um am 11. August vom Flughafen Tempelhof aus in die USA zu reisen. Dort lebte ihre Tochter, Langers Schwester, die damals ein Kind erwartete. „Meine Mutter wurde als Unterstützung angefordert“, scherzt er rückblickend. Die Papiere und das Visum waren ausgestellt, da erreichte Langer die Nachricht, der Flug sei auf den 13. August verschoben worden. Er versicherte sich beim DDR-Außenministerium, dass die Reisedokumente seiner Mutter Gültigkeit behielten. „Ja“, erhielt er zur Antwort, „und am besten, Sie nehmen einen wenig frequentierten Grenzübergang.“ Die scheinbar belanglose Äußerung verstand Langer erst im Nachhinein.
„Am Morgen des 13. August brachte ich meine Mutter zum Grenzübergang Elsenstraße in Alt-Treptow“, erzählt er. „Die Nachricht von den Straßensperren hatte uns da bereits erreicht, deshalb brachen wir hektischer auf als geplant.“ Der Flug ging um 11.30 Uhr. Bereits um 8 Uhr standen Mutter und Sohn an der Grenze. Ein Volkspolizist ließ sich die Dokumente zeigen und winkte Langers Mutter durch, in Richtung der abfahrbereiten Straßenbahn. „Wollen Sie auch mit rüber?“ fragte er dann den Sohn.
„Mir rutschte das Herz in die Hose. Ich dachte wenn ich das jetzt mache, komme ich vielleicht nie mehr zurück.“
Günter Langer
Langer ließ einige Sekunden verstreichen, in denen „der Grenzer genauso nervös war, wie ich“, sagt er. Dann schüttelte der Grünauer langsam den Kopf. Der Respekt war zu groß. Er blieb – und winkte seiner Mutter hinterher, wie sie ihren Koffer zur Tram trug. Der Flug ab Tempelhof ging planmäßig.
Neles Spur verlor sich auf Stralau
Bärbel Golinski aus der Köllnischen Vorstadt steht das Bild der kleinen Nele vor Augen, wenn sie an den 13. August 1961 denkt. „Ich arbeitete im Makarenko-Kinderheim in Johannisthal, wohin viele Mädchen und Jungen gebracht wurden, deren Eltern in West-Berlin arbeiteten. Nach der Grenzschließung kamen die – gewollt oder nicht – nicht mehr zurück“, erinnert sie sich. Die damals 25-Jährige nahm sich Nele an, tröstete das Mädchen und lenkte es ab, wenn Nele einmal wieder hinter den großen Fenstern im Erdgeschoss stand, nach draußen blickte und auf Mama wartete.
Kurz darauf bat ihre Vorgesetzte Bärbel Golinski um ein Gespräch: Sie müsse Nele nach Alt-Stralau bringen, in die Übergangseinrichtung. Dort werde das Mädchen mit seiner Mutter zusammengeführt, hieß es. „Das war eine fast synische Zumutung“, sagt die Zeitzeugin. Sie ahnte, dass Neles Schicksal damit besiegelt wäre. Einige Tage ließ sich die Anweisung noch aufschieben, dann nicht mehr. Nele, verunsichert durch den erneuten Ortswechsel und die fremden Gesichter, weinte und klammerte sich an ihre Erzieherin. „Das löste bei mir eine so hilflose Verzweiflung aus, dass sich dieser Eindruck auch später nie mehr ganz verlor.“
Rückblickend empfindet Bärbel Golinski die Wende als „ein Wunder bis zum heutigen Tag“.