Im April besuchte Bernhard Thiessen Pfarrer Ralf Musold. Der Theologe und Kirchenhistoriker hat eine Dokumentation über die Geschichte der Mennoniten in der DDR erstellt und stieß bei seinen Forschungen auch auf die Stadtkirchengemeinde. Genauer: Auf deren ehemaligen, 2019 verstorbenen Pfarrer Knuth Hansen, der von 1990 bis 2009 im Dienst war, zuständig für Köpenick-Nord und das Kietzer Feld. Zuvor hatte Hansen vor der Mennonitengemeinde der DDR gepredigt. Mittlerweile ist der Film fertiggestellt und wurde beim Gemeindeabend am 19. November in Anwesenheit des Regisseurs gezeigt. 80 Gäste waren in der Stadtkirche dabei.
Knuth Hansen ist ganz er selbst. Sein Ausdruck auf der Leinwand wirkt entspannt und zugewandt. Vor laufender Kamera spricht er über die mennonitische Gemeinde Ost-Berlins. Das Interview ist 31 Jahre alt. Geführt hat es der Niederländer Fokke Fennema. Ins Mikrofon des Kirchenhistorikers Bernhard Thiessen sagt dieser wiederum im Jahr 2023, ihn habe die unmittelbare Nachwendezeit fasziniert, „weil die Geschichte noch so frisch war“. Thiessen hat den Faden aufgenommen, weil Fennemas Filmsequenzen, acht an der Zahl mit einer Gesamtlänge von etwa sechs Stunden, unbearbeitet geblieben sind. Die historischen Momentaufnahmen waren drei Jahrzehnte lang unter Verschluss, die Geschichte der Mennoniten in der DDR blieb ohne Aufarbeitung. Bis jetzt.
Seine Dokumentation sei nur ein Aufschlag, betont Bernhard Thiessen. Er ist an diesem Abend nach Köpenick gekommen, um den 45-minütigen Film zu zeigen. Er porträtiert auch Knuth Hansen. Die evangelische Stadtkirchengemeinde war dessen letzte Dienststelle, als Gemeindemitglied hat Hansen ihr bis zu seinem Tod angehört. Das Publikum weiß aus der Ankündigung des Abends, worauf es sich einlässt: Ein ambivalentes Lebenskapitel des ehemaligen Gemeindepfarrers wird aufgeschlagen, das dem beliebten Seelsorger und freundlichen Menschen als Mitarbeiter der Staatssicherheit und des russischen Geheimdienstes folgt, während der Jahre 1980 bis 1990, die Hansen Prediger der Mennonitengemeinde der DDR war.
Der Titel des Films ist „Gemeinde unter Beobachtung – Mennoniten in der DDR“. Seit fünf Jahren befasst sich Bernhard Thiessen mit dem Alltag und der Glaubenspraxis der Mennoniten in der DDR. „250 Mitglieder hatte die Gemeinde im geteilten Berlin“, berichtet er, und, „dass deren Geschichte noch nicht erzählt worden ist. Speziell nicht die der Glaubensgeschwister im Ostteil der Stadt.“
Teil dieser Geschichte ist die Person Knuth Hansens, die „weder vernichtet, noch verklärt werden soll“, so Bernhard Thiessen. Er deutet an, dass ihn die Personalie des ehemaligen Köpenicker Pfarrers stark beschäftigt hat. Hansen war im Mai 1980 in die Mennoniten-Gemeinde gekommen, um deren Vorsitzenden Walter Jantzen zu unterstützen und als Prediger zu wirken. 1981 wurde er – unter Beibehaltung seines unierten Bekenntnisses – in die Gemeinde aufgenommen; durchaus gegen den Widerstand einzelner Gemeindeglieder, „die sich etwa daran stießen, dass der neue Prediger einen VW Golf fuhr, ein Westauto, und angab, über gute Kontakte zum Staatssekretär für Kirchenfragen zu verfügen“.
Im Interview ist Knuth Hansen 45 Jahre alt. Seine „guten Kontakte zum Staatssekretariat für Kirchenfragen“ und die damit verbundenen Privilegien räumt er ohne Umschweife ein. Es sei ihm ein Bedürfnis gewesen, sie zum Wohl der Gemeinde einzusetzen, um Reisevisa für den Vorstand zu erwirken oder junge mennonitische Männer vor der Einberufung zur NVA auszunehmen. Hansen selbst besitzt ein Dauervisum für Besuche im Westteil Berlins und einen VW, mit dem er mennonitische Familien auf dem gesamten DDR-Gebiet besucht. Später an diesem Abend relativiert Horst Krüger, ein Zeitgenosse im Publikum, der 45 Jahre lang als Mennonitenprediger ehrenamtlich in West-Berlin wirkte: „Hansen sprach von Gemeindebesuchen, die niemals stattgefunden haben, und seine Sitzungsprotokolle waren inhaltsleer.“ Bernhard Thiessen geht darauf ein, indem er die Schriftführerin der DDR-Mennonitengemeinde zitiert, auch sie kommt im Film zu Wort: „Die Dienstanweisung war, schreib‘ nichts Wichtiges rein.“ Spekulativ bleibt, ob Knuth Hansen seine „Gemeinde unter Beobachtung“ schützen oder ob er selbst unverdächtig erscheinen will. In den Aufnahmen von 1992 erklärt er: „Meine Stasi-Akte interessiert mich nicht.“
Hansen ist 22 Jahre alt, als er dem Theologen und MfS-Mitarbeiter Gerd Bambowsky begegnet, der ihn fördert und für das Studium empfiehlt. Beide gehen auch eine private Beziehung ein. Seine Homosexualität hält Hansen gleichwohl fast ein Leben lang geheim. Als IM Paul begleitet er Bambowsky Mitte der 1970er Jahre auf Reisen, bei denen Bibeln westlicher Missionsgesellschaften nach Osten, in die sowjetischen Bruderländer geschmuggelt werden. Die Historikerin Ann-Kathrin Reichardt, mit der Bernhard Thiessen zusammengearbeitet hat, kann belegen, „dass Bambowsky Dankesschreiben fingiert und beim Aufbau kleiner Druckereien mitgeholfen hat, um sie anschließend auffliegen zu lassen“. Was aus den Menschen dort wird, lassen die Akten unbeantwortet. Verbrieft ist, dass Hansen mittut, „denn das MfS baut ihn im Folgenden zum Einfluss IM auf, er soll einer Religionsgemeinschaft vorstehen und fromme Menschen ausspionieren“, so Reichardt.
Die Wahl fällt auf die Mennoniten. Hansen ist unierten Bekenntnisses, profitiert aber von der DDR-Ausnahmeregelung, wonach er in den Dienst einer weiteren christlichen Kirche treten kann. 1980 wird er in Berlin-Friedrichshain vorgestellt. Gemeindevorsteher Walter Jantzen äußert Vorbehalte, weil der neue Prediger so gute Beziehungen zum Staat hat. Hansen versichert, die seien nötig, um uneingeschränkt wirken zu können. Die Ruhe, die er damals ausstrahlt, überzeugt auch Horst Krüger: „Wir spürten, das war vielleicht nicht so gut. Aber es war wichtiger, dass wir jemanden für die Gemeinde der DDR hatten.“
In Köpenick mischen sich Betroffenheit und Unverständnis, viele Gemeindemitglieder schmerzt das zweite Gesicht Pfarrer Hansens. „Die fehlende Einsicht in die eigene Schuld“, formuliert es Pfarrer Ralf Musold, sei für ihn schwer zu fassen, „sie widerspricht dem Prinzip christlicher Verantwortung und dem, woran wir glauben“. Der Film lasse erkennen, dass Hansen wusste, was er tat. „Unvorstellbar, was Diktatur mit Menschen macht.“
Justus Schwer, zur Zeit der Friedlichen Revolution Pfarrer in Baumschulenweg und von 1990 bis 1994 mit Knut Hansen im selben Pfarrkonvent, schildert, „dass die Kontaktaufnahme zur Stasi allein im Entscheiden der Einzelnen gelegen hat. Das Nein dazu durchzuhalten, war für alle Pfarrer einfach. Der Schutzraum der Kirche funktionierte sowohl für die Arbeit als auch für das persönliche Leben.“
So bleibt offen, ob die Verstrickung in das System, an der Gerd Bambowsky wesentlichen Anteil hat, Knuth Hansen veranlasst, beim Thema Vertrauen Kompromisse zu machen, oder ob ihn Privilegien locken. Einen Verdacht äußert ein Adlershofer Gemeindemitglied, ein Mann Mitte 80, der die Veranstaltung in der Stadtkirche besucht. Er meint: „Der hielt sich für den Bischof der Mennoniten.“
Dass Hansens Einfluss nicht unerheblich war, könnte auch bewirkt haben, dass seine Stasi-Akte in den letzten Dezembertagen 1989 vernichtet wird, wie Bernhard Thiessen herausfand: Befürchtete er, wie Gerd Bambowsky enttarnt zu werden und seine Bezüge zu verlieren? Im Gemeindebrief der Mennoniten vom April 1990 schreibt Knuth Hansen, er werde „ab sofort nicht mehr in den Westen fahren, weil man dort schlecht über mich spricht“. Einige Wochen später verlässt er die Gemeinschaft und wechselt in die evangelische Landeskirche Berlins zurück.
Bernhard Thiessen versichert, die Dokumentation wolle zur Erschließung der jüngsten Geschichte der Mennoniten beitragen, nicht moralisch verurteilen. Methodisch geht das auf, indem die Zeitzeugen selbst erzählen. Das Gesprochene bleibt unkommentiert. Das nimmt den Betrachter in die Pflicht, sich Gedanken zu machen. Vorm Hintergrund der jüngsten EKBO-Erklärung zur MfS-Tätigkeit des DDR-Gefängnisseelsorgers Eckart Giebeler, ist dem Film ein breites Publikum zu wünschen, das darüber reflektiert, wie man als Christ*in im Glauben und Handeln wahrhaftig bleibt.
Text/Fotos: Dr. Tanja Kasischke (2) /Bernhard Thiessen